Stichwort
Willkommen, Gast

THEMA: Wie ein Fantasy-Epos entsteht - von Miguel de Torres Teil 3 Die Struktur

Wie ein Fantasy-Epos entsteht - von Miguel de Torres Teil 3 Die Struktur 22 Mai 2016 06:49 #4469

  • Sheila
  • Sheilas Avatar
  • OFFLINE
  • Tja: schreibsüchtig
  • Ich will, ich kann!
  • Beiträge: 512
3. Die Mythische Struktur

Sie hocken vor dem Computer, die Finger zwischen Sitzfläche und Oberschenkeln, und wissen nicht, was Sie schreiben sollen? Sie haben eine Idee, die Ihnen genial erscheint (und jede Romanidee sollte zumindest dem Autor genial erscheinen), aber Sie wissen nicht, wie Sie diese Idee in einen Roman umsetzen?

Probieren Sie’s mal mit der sogenannten »Mythischen Struktur«! Diese stellt sich folgendermaßen dar:
1. Akt

1.1 Der Leser wird in die Welt des Helden eingeführt.

1.2 Der »Ruf des Abenteuers« oder eine wie auch immer geartete, von außen kommende »Störung« (initial disturbance) unterbricht das Dasein des Helden.

1.3 Der Held könnte nun diese Störung ignorieren. Tut er es, ist der Roman beendet ;-) Aber wenn er die Störung nicht ignoriert, sollte er gute (persönliche) Gründe dazu haben.

1.4 Der Held »überschreitet die Schwelle«. Von nun an gibt es kein Zurück mehr für ihn (engl. point of no return, manchmal auch als First Doorway bezeichnet).
2. Akt

2.1 Der Held findet einen Mentor, der ihn lehrt und leitet.

2.2 Diverse Begegnungen mit den »Mächten des Bösen« (wie auch immer geartet).

2.3 Der Held hat einen »dunklen Moment«, einen dramatischen Konflikt in seinem Inneren, den er bewältigen muss.

2.4 Ein Talisman hilft dem Helden.

2.5 Etwas geschieht, das den »Endkampf«, die finale Konfrontation, unausweichlich macht (engl. Second Doorway).
3. Akt

3.1 Die letzte Schlacht.

3.2 Der Held kehrt in seine Welt zurück.

(Zitiert u. a. nach: James Scot Bell: Plot & Structure, Writer’s Digest Books 2004. Übrigens ein höchst empfehlenswertes Buch, gute Englischkenntnisse vorausgesetzt.)

Das war’s. So einfach.

Die Mythische Struktur funktioniert immer, vom SF-Epos über den Western bis hin zum Katzenroman. Letzteres habe ich selbst bewiesen, Ersteres George Lucas mit seinem ersten Star-Wars-Film, der eine glasklare Implementation der Mythischen Struktur darstellt. (Für die Ausgestaltung des Skeletts, das die Mythische Struktur darstellt, hat er sich bei Akira Kurosawas Die verborgene Festung [1958] bedient, allerdings erheblich subtiler, als Sergio Leone das bei einem anderen Film des japanischen Starregisseurs gemacht hat, nämlich Yojmbo – Der Leibwächter [1961]. Für eine Handvoll Dollar [1964] ist praktisch eine 1:1-Umsetzung des Samuraifilms. Da damals niemand glaubte, dass der Italowestern ein großer Erfolg würde, sah man davon ab, Kurosawa mit einer Anfrage zu den Neuverfilmungsrechten zu belästigen … Aber irgendwann bemerkte er es doch, und man kam zu einer Übereinkunft. Angeblich soll Kurosawa mit Für eine Handvoll Dollar mehr Geld gemacht haben als mit all seinen japanischen Filmen zusammen.)

Wenn Sie das nächste Mal ein Buch lesen, fragen Sie sich mal, ob dieses die Mythische Struktur ganz oder zumindest teilweise implementiert. In erstaunlich vielen Fällen ist die Antwort ein eindeutiges »Ja«! Woher kommt das? Kennen bzw. kannten all diese Autoren die Theorie der Mythischen Struktur, deren Formulierung i. A. Joseph Campbell (1904-1987) zugeschrieben wird?

Durchaus nicht. Diese Mythische Struktur ist in uns selbst, sie ist das Resultat von mehr als fünf Jahrtausenden des Geschichtenerzählens, angefangen nicht erst bei der Odyssee. Unser Leben ist von klein auf angefüllt mit Geschichten, die wir lesen oder im Fernsehen oder Kino sehen und die alle bestimmten Mustern folgen. Die Mythische Struktur ist für mich das literarische Äquivalent zum Goldenen Schnitt in Architektur und Malerei: pure Ästhetik, die rational (oder gar mathematisch) nicht erklärbar ist, weil sie im Wesen des Menschen verankert ist. Und dieses ist immer noch ein Mysterium, Gott sei Dank ...

Noch eine Anmerkung: Die drei Akte, in die ich die Mythische Struktur oben aufgeteilt habe, erheben sich ganz von selbst. Anstelle von »1. Akt, 2. Akt, 3. Akt« könnte man auch sagen: Anfang, Mitte und Ende. Jede Geschichte hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Letztlich lassen sich alle Geschichten darauf reduzieren, auch Geschichten mit vier oder mehr Akten, denn die mittleren Akte sind dann stets nur eine Untergliederung des eigentlichen 2. Akts, eben der Mitte.

Und wir haben Übergänge, die entscheidende Wendepunkte in der Handlung darstellen: vom 1. in den 2. Akt (First Doorway) und vom 2. in den 3. Akt (Second Doorway). Auch die initial disturbance, die anfängliche Störung, ist letztlich so ein Übergang, und sie sollte in kommerziellen Romanen so nahe wie möglich am Anfang erfolgen, um den Leser von der ersten Seite an zu fesseln; in jedem Fall im 1. Kapitel. Als Faustregel für die Platzierung des Übergangs vom 1. in den 2. Akt gilt: sie sollte nach etwa 20 %, spätestens aber nach 25 % des Romanumfangs erfolgen. Gleichermaßen sollte der Übergang vom 2. in den 3. Akt nach ca. 75 bis 80 % erfolgen. D. h. Anfang und Ende sind jeweils deutlich kürzer als der Mittelteil. (Wie man diese lange Mitte mit Handlung, also Leben erfüllt, darüber sprechen wir später. Das ist ein wichtiger Punkt: Viele Romane haben in der Mitte einen »Durchhänger«. Wir wollen es besser machen.)

So viel zur Mythischen Struktur. Ich hoffe, Sie finden meine Ausführungen interessant; falls ja, würde ich mich freuen, wenn Sie den Link zu diesem Blog weiterverbreiten.

Vielen Dank und bis zum nächsten Mal,

Miguel
Liebe Grüße

Sheila
Letzte Änderung: 22 Mai 2016 06:54 von Sheila.
Der Administrator hat öffentliche Schreibrechte deaktiviert.